Das Projekt Wächter über Oberwart

Sie residieren an den Hängen der beiden sich landschaftlich sanft erhebenden Hügelketten, zwischen denen die Wart eingebettet ist. Sie sehen von dort herunter auf all das in den Jahrhunderten Gewachsene, auf den Verkehr, auf die Geschäftigkeit des Alltags, auf die großen und kleinen Hoffnungen der Menschen und deren stets unwägbares Geschick. Die Rede ist von den sechs Friedhöfen der Stadt Oberwart – vier davon an der östlichen Erhebung, zwei an der westlichen gelegen – und den in ihnen Begrabenen.

Für eine Gemeinde von knapp über 7.000 Einwohnern ist solch eine Anzahl von Friedhöfen erstaunlich! Sie dürfte in der österreichischen Provinz jedenfalls einmalig sein und legt Zeugnis ab nicht nur von der Bewegtheit des Ortes selbst, sondern mehr noch von der Tatsache, dass es den Menschen hierzulande über Jahrhunderte gelungen ist, mit ihren unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen ein gedeihliches Zusammenleben zu führen: Katholische, Evangelische, Reformierte und Juden – auch wenn dieses, zumindest was die Juden betrifft, im Jahr 1938 ein schreckliches Ende gefunden hat. Zu den Friedhöfen dieser vier Konfessionen gesellen sich der Gemeindefriedhof (auch „Gemeindearmenfriedhof“ oder nur „Armenfriedenhof“ genannt), der Friedhof der Sowjetarmee (auch „Russenfriedhof“ genannt), sowie drei weitere Totengedenkstätten, die den Gefallenen der Weltkriege, den Widerstandskämpfern und den Opfern des Bombenattentats von 1995 gewidmet sind.

>> Trailer "Wächter über Oberwart – Bank Austria Kunstpreis 2014


Aufbau der Ausstellung 

1. Sechs Friedhöfe, drei Totengedenkstätten und vier Religionsgemeinschaften – Die Ausstellung präsentiert wissenschaftlich untermauerte Erläuterungen zur Entwicklung des Römisch-Katholischen, des Evangelischen A.B., des Evangelischen H.B. (Reformierten), des Jüdischen in der archetypischen Grenzregion seit der Landnahme durch die Magyaren bis hin zur Gegenwart. (Wissenschaftliches Konzept und Ausführung: Mag. Gert Tschögl)

2. Die Erzählung der Toten – Exemplarische Schicksale aus 6 Friedhöfen sowie dem Kriegerdenkmal und dem Denkmal für die Opfer des Bombenattentats von 1995 künden von den letzten anderthalb Jahrhunderten einer mehr oder weniger erfolgreichen Suche nach einem gedeihlichen Zusammenleben der verschiedenen Ethnien, Sprachen, Kulturen und Religionen. Erzählt wird dabei nicht nur von persönlichen Schicksalen, sondern auch von der Entwicklung der traditionellen Grenzregion, die bis in die Gegenwart nicht aufgehört hat, den Übergang im Trennenden wie im Gemeinsamen zwischen den verschiedenen örtlichen, politischen, kulturellen, religiösen und ökonomischen Strukturen darzustellen.

3. Listen eines Fluidums des Alltäglichen – Von sämtlichen Friedhöfen werden lange Listen von Personen veröffentlicht, die das Leben der Stadt in dieser oder jener Form geprägt haben. Oder ist es selbstverständlich, dass man heute noch weiß, dass es nicht nur den Lehrer und Pfarrer, den Rechtsanwalt und Stuhlrichter, den Schuster und Schneider und Tischler gegeben hat, sondern auch den Kammmacher, den Kammerdiener und den Bewohner des Armenhauses?

4. Übersetzung in die Sprachen des Landes und ins Hebräische – Um der Bedeutung der Sprachen im Sinne der Ausstellung Rechnung zu tragen, sind sämtliche wissenschaftlichen und biografischen Texte als Exzerpte sowohl in die im Burgenland nach wie vor gesprochenen Sprachen Ungarisch, Kroatisch und Romanes als auch ins Hebräische übersetzt.

5. Zwei Künstlerinnen erarbeiten explizit zur Ausstellung und ihren Inhalten Kunstwerke, die das Faktische mit dem Fiktionalen verbinden und konfrontieren. So wird die Ausstellung auch zum Angebot einer Grenzerfahrung, die über die historische Beschreibung hinausreicht und dem individuellen Bewusstsein eine Begegnung mit den vielfältigen Spiegelungen menschlicher Existenz ermöglicht. (Kurator: Martin Breindl)

Zur Konzeption
Konzepte und Texte für Ausstellungen zu entwerfen, stellt für HistorikerInnen eine spezielle Herausforderung dar. Die Länge der Texte unterliegt einer Beschränkung durch die Maße der Ausstellungstafeln. Mehr Freiheiten lässt hingegen die Darstellungsweise zu. Ausstellungen gehorchen anderen Vermittlungsprinzipien als Fachpublikationen. Und bereits vor der Ausstellungseröffnung ist man mit dem Gedanken belohnt, dass die Texte, die Gedanken und Interpretationen von einem Publikum gelesen werden, das über die übliche Fachkollegenschaft hinausgeht.
Doch die Ausstellungsidee von „Wächter über Oberwart“ stellte darüber hinaus auch den Reiz dar, eine kurze Geschichte der Stadt Oberwart/Felsőőr aus der Sicht von Lebensgeschichten zu schreiben. Oberwart/Felsőőr ist eine der wenigen, wenn nicht die einzige Stadt dieser Größe in Österreich, die sechs Friedhöfe unterschiedlicher Religionsgemeinschaften und Zuständigkeiten beheimatet. Ebenso finden sich drei Totengedenkstätten im Ort. Ausgewählte Biografien von Menschen, an die auf den Grabsteinen der Friedhöfe und an den Gedenkstätten erinnert wird, erzählen aus ihrem mit Oberwart/Felsőőr verbundenen Leben.
Die übliche Darstellung einer Stadtgeschichte als chronologische Abfolge von geschichtlichen Ereignissen durfte bei diesem Konzept in kreativer Weise gebrochen werden, und durch die Anordnung der unterschiedlichen Blickwinkel der ausgewählten biografischen Erzählungen und deren religiöse oder soziale Lebenszusammenhänge ersetzt werden. In ihren Texten sprechen die Erzählenden im Tonfall persönlicher und subjektiver Erfahrung. Die Biografien stehen damit in einem Dialog miteinander und mit den AusstellungsbesucherInnen.
Struktur und Kapiteleinteilung der Ausstellung waren durch die Idee, die Friedhöfe und Totengedenkstätten zum Ausgangspunkt der Erzählungen zu machen, vorgegeben. Die Zuweisung der Themen entspricht den Hintergründen der Erzählungen der „Wächter über Oberwart“. In den Ausstellungstexten, die sich erklärend über die Texte der lebensgeschichtlichen Erzählungen legen, werden diese unterschiedlichen Blickwinkel ebenfalls betont.
Durch Lebensgeschichten lassen sich historische Ereignisse besser verständlich machen. Die Subjektivität und die Lebenszusammenhänge der Erzählungen erlauben den AusstellungsbesucherInnen, ein empathisches Verhältnis zu den erzählenden Menschen zu finden. Damit lassen sich auch das eigene Eingebundensein in die Ereignisse der Zeit und die Handlungsmöglichkeiten leichter erkennen.
Dass das Nebeneinander und Miteinander unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, Volksgruppen und politischer Interessen in Oberwart/Felsőőr nicht immer unproblematisch war und auch in Verboten, Verfolgungen und Deportationen endete, zeigt diese Ausstellung auch. Doch wie immer wieder in Oberwart/Felsőőr betont wird, „spricht man miteinander“. Und dies ist wohl der entscheidende Schritt zu einem friedlichen Miteinander unterschiedlicher sozialer, kultureller und religiöser Gruppen.

Gert Tschögl, wissenschaftliche Ausführungen

Die Mitwirkenden

Erstkonzept und Projektleitung: Peter Wagner
Wissenschaftliches Konzept, Recherche und Ausführung: Gert Tschögl / Burgenländische Forschungsgesellschaft
Ausstellungskonzept und grafische Gestaltung: Eveline Rabold

Fotografie: Christian Ringbauer
Konzept Künstlerbeiträge: Martin Breindl

Beteiligte Künstlerinnen: Elisa Andessner (A), Anne Kneubühl (CH)

Elisa Andessner (A)
lebt und arbeitet in Linz; Studium der Experimentellen Gestaltung an der Kunstuniversität Linz. Elisa Andessner arbeitet vorwiegend im Bereich Performance-, Videokunst und Fotografie. In ihren Arbeiten versucht sie, Realität zu hinterfragen, zu verzerren und ihr unterschiedliche Blickwinkel zu geben, wobei als Basis immer der eigene Körper als performatives Werkzeug dient. Seit 2006 nimmt sie an internationalen Performancefestivals und -projekten in Vietnam, Spanien, Indonesien, Polen, Weißrussland, Belgien, den Niederlanden, Deutschland, Frankreich und der Schweiz teil. Ein weiterer Teil ihrer Arbeit ist die Organisation und Kuration von Performanceprojekten wie “Performancetage” 2007, Internationales Performancefestival “Soft Bodies” 2010, Internationales Performancefestival “Rundum das Feld, am Wasser” 2011, „Performance Project Days Linz“ 2012, die Veranstaltungsreihe “Performancelaboratorium” 2010-13.


Anne Kneubühl (CH)
Seit dem Abschluss des Diplomstudiums „Mediale Künste“ an der ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste, 2008) arbeitet sie als freischaffende Künstlerin und Designerin transdisziplinär in verschiedenen Bereichen der Künste. Elektroakustische Komposition, akustische Szenografie, Sounddesign sowie Klangkunst in Innen- und Außenräumen – situativ, installativ und performativ – sind Interessensschwerpunkte der Künstlerin. Die immer wiederkehrende Zusammenarbeit mit dem Klangkünstler Andres Bosshard und der Weiterbildungslehrgang „Computermusik“ am ICST (Institute for Computer Music and Sound Technology, Zürich, 2012) haben diese Interessen vertieft. Nun entstehen Erlebniszonen wie Klanggärten, Klanghimmel und Klangkulissen in Zusammenarbeit mit Musikern, Klangkünstlern, Theaterschaffenden, Tänzern, aber auch Museen und anderen Partnern. Wichtig sind der Künstlerin dabei die Aspekte der Transformation und Gestaltung des (Klang-)raums in subtiler Weise, sodass sich die aktuelle Wahrnehmung mit Assoziationen und Erinnerungen überlagert und sich die Besuchenden in unerwartet geheimnissvollen Stimmungen wiederfinden.
 

Recherche und Texte zu vorgestellten Biografien (sofern nicht persönlich als Verfasser genannt): Dr. Werner Gangoly, Christian Krutzler, Mag. Gert Polster, Mag.a Judith Schuster-Gyenge, Katharina Tiwald, Peter Wagner

Weitere Mitarbeit: Pfr. Mag. László Gúthy (Listen der reformierten Totenbücher), Stefan Horvath, Christian Krutzler (Listen der katholischen und evangelischen Totenbücher, Liste der Totenbücher des Armenfriedhofs), Pfr. Mag.a Sieglinde Pfänder, Maria Racz, Mag. Franz Stangl (Summaries), Katharina Tiwald (Summaries), Juliane Tölly

Lektorat: Dr. Bernhard Berger
Übersetzungen: Mag.a Judith Schuster-Gyenge, Emmerich Gärtner-Horvath, Josef Schmid, Dr. Tirza Lemberger, Mag.a Franceska Liebmann


Organisatorische Leitung: Alfred Masal (OHO)
Bauten: Alfred Masal, Georg Müllner, Herbert Polzhofer
Büro: Bettina Benedek

Eine Produktion des Offenen Hauses Oberwart 2013/14

Ein Dank an folgende Personen und Institutionen für Auskünfte und div. weitere Hilfeleistungen: Bezirkshauptmannschaft Oberwart, Viktor Blaskovics, Herbert Brettl, Geza Brunner-Szabo, Theresia und Peter Fuith, Gemeinde Oberwart, Geschichte(n)haus in Bildein, OAR Werner Gilschwert, Gisela Lapornik, Josef Hanel, Horst Horvath, Gerald Jezerniczky, Helene Kurz, Andreas Lehner, Dr. Ursula Mindler, Mag.a Rita Münzer, Roland Poiger, Dr. Ludwig Popper, Altbürgermeister Michael Racz, Mag. Johannes Reiss, Susi Samer, OAR Berthold Schlaffer, Tillfried Schober, Julius Seper, Dieter Szorger, Bgm. Christian Vlasich (Lockenhaus), Elfi Wertner, Otto Wölfel, Kerstin Zsifkovits